Kangalmix "Charly"

Der Angsthund – eine ganz eigene Rasse

Wenn du dich entscheidest, einen Angsthund bei dir aufzunehmen, kannst du dich von der normalen Vorstellung einer Hund-Mensch-Beziehung eigentlich schon mal verabschieden. Du wirst einen langen und steinigen Weg gehen, bis das Zusammenleben zwischen dir und deinem Angsthund „normal“ wird. Neben Geduld, Fingerspitzengefühl und dem nötigen Sachverstand wird dir leider auch abverlangt, dass du die Häme und Vorurteile anderer Hundehalter wirst aushalten müssen. Was du dafür bekommst? Du darfst miterleben, wie sich ein verloren geglaubtes Tierleben positiv verändert. Und du findest unter einem großen Berg aus Angst und Unsicherheit vielleicht am Ende den besten tierischen Partner, den du dir je hättest vorstellen können.

Ein Erfahrungsbericht von Patrice Krüger

Ein Angsthund kommt nicht freudig auf dich zu gelaufen, schleckt dir das Gesicht ab und läuft fortan, ohne jemals Probleme zu machen, glücklich neben Dir durch´s Leben. Nein. Es ist eher so, dass er sich niemals für Dich entschieden hätte, hätte er die Wahl gehabt. Er vertraut dir kein Stück und wünscht sich, dass Du so schnell, wie Du in sein Leben getreten bist, auch wieder verschwindest.
Vom ersten Tag an wirst Du mit einem Angsthund vor Situationen stehen, die Du Dir vorher nicht hast vorstellen können. Wer denkt denn schon daran, dass, nur weil du dir einen besonderen Hund anschaffst, du ab sofort die elektrische Zahnbürste im Schrank lassen kannst, weil der neue vierbeinige Lebensgefährte in Panik verfällt, sobald das Gerät läuft? Oder dass du vielleicht den Gürtel deiner Hose nur noch sitzend anzuziehen können wirst, weil dein Hund sonst denkt, er wird verprügelt? Oder dass du deinen heruntergefallenen Schlüsselbund fortan nur noch geräuschlos aufgeben kannst, damit er nicht in Panik verfällt? Oder dass du nur noch Stoffbeutel benutzen wirst, weil Plastik- oder Papiertaschen zu bedrohlich auf den Hund wirken?

Ja, ein Angsthund ist immer ein Überraschungspaket. Man weiß nie genau, was alles auf einem zukommen kann. Was man aber weiß: Dieser angespannte Zustand kann und soll nicht so bleiben. All diese vermeintlich gruseligen Alltagsgegenstände muss dein Hund kennenlernen, denn Du möchtest dich ja irgendwann wieder normal verhalten können und Dein Hund soll aus seinem Angstgefängnis befreit werden. Aber dazu muss die Handschrift der Vorbesitzer weg.

Das Schwierigste zuerst: Vertrauen schaffen

Also besteht Deine erste Aufgabe darin, Vertrauen zu schaffen. In der Praxis bedeutet das so eine Mischung aus normalen Alltagsverhalten und „auf rohen Eiern laufen“. Damit musst du gleich zum Anfang die schwierigste aller Aufgaben meistern.
„Vertrauen schaffen“ kann vieles bedeuten, das hängt ganz von deinem Hund ab. Es kann bedeuten, ab sofort nicht mehr zu laut sprechen, sich über gar nichts zu ärgern (sofern Dein Hund in der Nähe ist), ruhig durch´s Haus zu gehen, nichts fallen zu lassen und direkten Augenkontakt weitestgehend zu vermeiden.

Dein Hund hingegen lässt Dich in dieser wichtigen Phase möglicherweise nicht aus dem Auge, als wärst Du das Schlimmste, das er je gesehen hat. Er versucht dich zu verstehen und studiert dich mit seinen Blicken. Er studiert Deine Verhaltensweisen, um sich ein Bild von Dir zu machen. Und das ist gut! Gib ihm die Zeit, die er braucht, um Dich kennenzulernen. Er muss verstehen, dass Du nicht so eine Katastrophe bist, wie die Leute, die einst einen Angsthund aus ihm gemacht haben.

Üben, üben, üben: Beim Umgang mit Angsthunden ist Geduld gefragt. Aber auch Mut, sich zum richtigen Zeitpunkt herausfordernden Situationen zu stellen.

Gut Ding muss Weile haben…

Also geht ihr es nach und nach an. Elektrische Zahnbürste, Gürtel, knisternde Tragetasche, Schlüsselbund, Auto fahren, unterschiedliche Böden betreten, Vogelgeräusche und was da noch so Unverhofftes kommt. Man fängt bei Angsthunden nicht bei Null an, sondern eher bei Minus 20 . Ein vernünftiges Lehrbuch gibt es auch nicht, da fast alles aus deinem Bauch heraus passieren muss.
Und wenn ihr es endlich geschafft habt, die ersten Probleme zu lösen und Dein Hund Dir vertraut, sind plötzlich schon einige Monate oder gar ein Jahr vergangen. Bis dahin hat dein Angsthund vielleicht noch nicht einmal Sitz, Platz, Fuß und Aus gelernt. Und das nicht, weil der Hund zu doof ist oder Du zu unfähig, sondern weil es nichts Aufwändigeres gibt, als einen Angsthund „umzukrempeln“. Angst blockiert das Gehirn und je tiefer die Angst sitzt, desto länger dauert es nun mal, eine Veränderung herbeizuführen.

Angsthunde müssen außerdem viel mehr lernen als andere Hunde. Und sie müssen alles in sehr viel kleineren Schritten lernen. Durch die ständige Angst fällt es diesen Hunden noch schwerer, Dinge zu verstehen und sie umzusetzen. Ein normal funktionierendes Hirn kann verschiedene Prozesse und Erfahrungen nach ein paar Wiederholungen abspeichern. Das ist bei einem von Angst geprägten Gehirn anders. Da gibt es nur Stress und jede Menge Chaos im Kopf.

Wie ich meinem Hund die Angst vor einem Blatt Papier nahm

Eine typische Alltagssituation mit meinem Angsthund, wie ich sie erlebt habe: Ich habe mehrere Blätter Schreibpapier in meiner Hand und bin auf dem Weg zum Schreibtisch. Einer meiner beiden Hunde bekommt große Angst davor und will weglaufen. Ich muss mir also jetzt und sofort die Zeit nehmen, daran zu arbeiten.
Ich setze mich zu ihm und lasse in Platz machen (das konnte er zu diesem Zeitpunkt schon). Ich berühre mit einer Hand sanft seine Schulter und mit der anderen das am Boden liegende Papier. Der Hund darf jetzt nicht von mir gestreichelt werden, das würde nur seine Angst fördern! Ich schiebe also das Papier etwas in seine Richtung und noch bevor er zum Weglaufen aufstehen will (ich erkenne diesen Moment gut an den größer werdenden Augen und dem steifen Körper), ziehe ich es wieder zurück. Das wiederhole ich so oft, bis er sich etwas entspannt, dann erst lobe ich ihn.

Dann erst kann ich einen kleinen Schr

itt weiter gehen: Ich schiebe das Papier jetzt so dicht an meinen Hund, dass er es mit seiner Pfote berührt und nehme es sofort wieder weg. Auch das mache ich so lange, bis er sich wieder etwas entspannt und lobe ihn. Im nächsten Schritt lege ich das Papier auf sein Bein und nehme es wieder weg und wiederhole es, bis er es erträgt. Dann gibt es wieder ein Lob.
Einmal üben reicht meist nicht aus, ich musste diese Übung jeden Tag wiederholen, bis das Papier für meinen Hund keine Bedeutung mehr hatte. Solche und ähnliche Übungen sind übrigens anstrengend für einen Angsthund und man muss darauf achten, dass man ihn nicht überfordert. Und sie gelten nicht selten nur für das eine, in Rede stehende Stück Papier; die anderen Papiere, die anders aussehen oder andere Geräusche machen, sind wieder eine ganz neue Challenge.

Bei einem Hund ohne Angst würde die gleiche Übung übrigens ganz anders verlaufen: Er erschreckt vor dem Papier, du hältst es ihm zum Beschnuppern hin, sagst ihm, dass alles gut ist – Und das war´s im besten Fall. Das ist der große und auch zeitaufwendige Unterschied.

Was Hänschen nicht lernte… lernt Hans nur sehr schwer

Das gilt nicht nur für Papier. Mit Menschen ist es genauso. Nur weil Dein Hund Dir jetzt vertraut, bedeutet das nicht, dass er verstanden hat, das alle Menschen toll sind und keine Gefahr bedeuten. Bei manch einen Hund funktioniert das „Umstrukturieren des Hirns“ nach 20 oder 30 Blättern Papier, Zahnbürsten oder Menschen, bei anderen erst nach 1.000. Und das ist tatsächlich kein Scherz. Alles was Dein Hund nicht in den ersten Monaten seines Lebens gelernt hat, wird er nur sehr mühselig später erlernen. Und wenn dann noch dazu kommt, dass er körperlichen und seelischen Grausamkeiten ausgesetzt war, wird die ganze Nummer noch komplexer.

Hündin Sina kam gemeinsam mit ihrem Bruder Charly aus schlechter Haltung.

Mit dem Unverständnis anderer muss man leider leben

Dass die Transformation von einem Angsthund zu einem sich entspannt im Alltag bewegenden Vierbeiner längere Zeit brauchen, können manch andere Hundehalter oft nicht verstehen. Sie verstehen nicht, weshalb Dein Angsthund nicht so schnell lernen kann wie ihrer. Der konnte schließlich schon nach zwei Wochen Sitz und Platz! Aber sie vergessen leider dabei, dass dein Angsthund in zwei Wochen mehr lernen musste als ein „normaler“ Hund. Sie können es sich wahrscheinlich auch gar nicht vorstellen. Viele Hundehalter würden in 10 Jahren Hundehaltung nicht auf die Idee kommen, dass selbst das alltägliche Tischdecken mit klapperndem Besteck und Tellern eine große Herausforderung für ihren Hund sein könnte.

Vielleicht hilft ja dieser kleine Erfahrungsbericht dem einen oder anderen etwas besser verstehen, wie viel Zeit und Geduld es braucht, um aus einem geschundenen Tier einen alltagstauglichen, entspannten Begleiter zu machen und was für andere Wege man dafür gehen muss. Und das es nicht fair ist, Herrchen und Frauchen von solch besonderen Hunden gleich zu verurteilen, wenn Dinge mit einem Angsthund eben nicht so schnell klappen.

Eine Entscheidung, die bewusst getroffen werden muss

Nicht viele Menschen erklären sich bereit, das Unheil anderer in Ordnung zu bringen. Einen Hund mit besonderen Bedürfnissen aufzunehmen, kostet zudem sehr viel Zeit und wird dein Leben wahrscheinlich stark verändern. Das muss man wollen und händeln können – familiär, zeitlich und finanziell.

Daher finde ich persönlich es völlig in Ordnung, die bewusste Entscheidung zu treffen und sich einen ” ganz normalen” Hund anzuschaffen. Ein Hund bereichert immer das Leben und wenn man sich einen Angst- oder Problemhund nicht zutraut oder das nicht ins eigene Leben passt, ist es überhaupt nicht verwerflich, einen gut sozialisierten Hund aufzunehmen. Wenn du mich fragst, bitte unbedingt aus dem Tierheim, denn dort warten genug Hunde auf eine zweite Chance, und die wenigsten bringen riesige Baustellen mit. Im Tierheim bekommst du eine ehrliche Beratung, die Mitarbeiter kennen die Tiere gut und du wirst mit ihrer Hilfe bestimmt den Hund finden, der zu dir und zu seinem Leben passt.

Jeder, der sich bewusst für einen Angsthund entschieden hat, wird mir sicherlich recht geben, wenn ich sage, dass sich diese Entscheidung und all die Zeit und Mühe lohnt. Zu sehen, wie dein Hund sich entwickelt, zu einer Persönlichkeit wird, dir vertraut, Spaß am Leben findet und eine ganz besondere tiefe Bindung zu dir aufbaut, ist einfach unbezahlbar.

Ich persönlich kann es einfach nicht ertragen, wenn ein Hund die ganze Welt für schlimm hält und sich ständig in einem geistigen und seelischen Stresszustand befindet. Ich habe dann sofort das Bedürfnis, mich für die mir unbekannten Menschen, die ihm das angetan haben, zu entschuldigen und ihm die schönen Dinge des Lebens zu zeigen. Den Hund aus seinem Angstzustand herauszulocken und auf die schöne Seite des Lebens zu führen. Egal was es kostet und wie lange es dauert.

An die Menschen, die auch solche besonderen Hunde aufgenommen haben: Vielen Dank dafür, und lasst euch nicht entmutigen. Auch wenn ihr selbst mal das Gefühl habt in einer Sackgasse zu stecken oder wenn sich lange nichts verbessert. Macht einfach weiter, denn es wird ganz sicher besser und euer Hund hat es verdient, dass man sich um ihn kümmert. Vergesst niemals, dass Angsthunde die aufwendigsten Hunde sind, die man aufnehmen kann und dass das niemand verstehen kann, der das nicht selbst erlebt und durchlebt hat. Denn Angsthunde sind eine ganz eigene Rasse.